Mit einer unerwarteten Diagnose kam das Leben der selbstständige Tischlermeisterin ins Wanken, doch sie erfand sich neu und startete wieder durch.
Annette
Ich bin Annette, 49 Jahre alt, seit 20 Jahren selbständige Tischlermeisterin und seit Oktober 2022 Studierende an der SRH Hochschule Heidelberg. Auf dem Campus habe ich ein Zimmer und kann in der Mensa drei tägliche Mahlzeiten einnehmen. Mein Wohnort und Lebensmittelpunkt sind in Neuss und ich pendle jede Woche mit dem Auto.
Am Anfang des Jahres 2021, nachdem ich gerade aus einem Anstellungsverhältnis ausgeschieden war, habe ich meine starken Rückenschmerzen als Anlass genommen, beim Orthopäden vorstellig zu werden. Nach eingehender Untersuchung verkündete dieser mir, Physiotherapie bräuchte man nicht zu verschreiben, ich solle direkt eine Rehabilitation machen. Mit Corona-bedingten Einschränkungen habe ich diese vier Wochen praktiziert, um am Ende von der Ärztin zu erfahren, dass meine gesundheitliche Situation mich zu 50% berufsunfähig macht. Skoliose und Gleitwirbel in der Lendenwirbelsäule. Damit war mein bisheriges Leben umgeworfen.
Zum Glück hatte ich auch freiwillig weiter in die Rentenkasse einbezahlt und wurde durch diese zu einem zweiwöchigen Assessment in Köln einberufen, um meine berufliche, gesundheitliche, psychologische und soziale Einsatzfähigkeit zu testen. Nach vorliegenden Ergebnissen fragte mich meine dort betreuende Psychologin, ob ich mich schon einmal mit einem Studium auseinandergesetzt hätte, sie würde bei mir B.A. Soziale Arbeit sehen. Sie drückte mir einen Flyer der Ausbildungsmöglichkeiten an der SRH Hochschule Heidelberg in die Hand und ich verabschiedete mich mit der Hoffnung, nicht eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten absolvieren zu müssen, wie eine andere Kursteilnehmerin (Garten- und Landschaftsbaugesellin).
Wir haben Kommiliton_innen mit anderen kulturellen Hintergründen, sehr junge, die eifrig bei der Sache sind, auch junge, die den Ernst der Lage nicht anerkennen möchten, andere Prioritäten setzen und die gegebene, von den Eltern bezahlte Chance mit Füßen treten, aber auch Junge und Gleichaltrige, die mich mit ihrer Lebenserfahrung sehr bereichern. Wir haben Kommiliton_innen mit Einschränkungen, im Rollstuhl und mit unterschiedlichem Assistenzbedarf. Jeder bringt seine eigene Geschichte mit und den Anschluss und die Akzeptanz habe ich gefunden. Durch das Studium und die Freizeitgestaltung mit diesen Kommiliton_innen werden Hindernisse und Barrieren bewusster. Dieses Erleben hat meine Sicht und Perspektiven sehr erweitert und meine Haltung sensibilisiert. Dazu und zu meiner Erweiterung tragen natürlich ebenfalls die Themenstellungen und Inhalte der Module des Studiums bei, die eine eingehende Selbstreflexion, persönliche Entkategorisierung und Umstrukturierung fördern und fordern. Auch die Lern- und Prüfungsgestaltung des CORE-Prinzips kommt mir durch die kleine Gruppe und modulare Einheiten sehr in der Bewältigung der Anforderungen entgegen.
Nach Erreichen der Halbzeit kann ich nun sagen, dass mich die Rahmenbedingungen durch die SRH und meinen Kostenträger stützen, um mich hier auf das reichhaltige Studium, in all seinen Facetten und Nebenerfahrungen, zu konzentrieren.
Durchaus stoße ich mit meiner Haltung, Priorisierung und Herangehensweise auf Unverständnis oder Ablehnung von den anderen. Die Benennung als Streber, aufgrund meiner Beteiligung und Leistungen, nehme ich gerne an, da ich es immer noch als Geschenk und Chance empfinde, mich nochmals bilden zu dürfen und dementsprechend den gleichen Einsatz einbringe, wie als langjährig selbstständige Tischlermeisterin. Ich möchte mein Bestes geben, um dieser einmaligen Möglichkeit gerecht zu werden und ich freue mich auf die weiteren Herausforderungen!