Hindernisse müssen keine Grenzen sein
Lily
Mein Name ist Lily. Ich bin 24 Jahre alt und studiere aktuell Soziale Arbeit im 6. Bachelorsemester an der SRH Hochschule Heidelberg. Seit meiner Geburt habe ich eine infantile Cerebralparese, was dazu führt, dass ich in meinem Alltag auf einen Rollstuhl und ein individuelles Team aus sechs Assistenten angewiesen bin.
Aufgewachsen und zur Schule gegangen bin ich in Trier in Reinlandpfalz, nahe der Grenze zu Luxemburg. Dort habe ich gemeinsam mit meinen beiden Geschwistern und meinen Eltern bis ins Jahr 2016 gelebt. Schon von klein auf war ich aufgrund meiner körperlichen Beeinträchtigung mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Bis zum Alter von vier Jahren wurde ich von Diagnostik zu Diagnostik weitergereicht, um herauszufinden was mir fehlt. Bis zu diesem Zeitpunkt war lediglich auffällig, dass im Alter von damals sechs Monaten immer noch nicht begonnen hatte zu krabbeln, im Gegensatz zu meiner Zwillingsschwester. Als der Arzt meinen Eltern dann mitteilte, dass ich nie werde laufen können und auch sonst kein selbständiges Leben würde führen können, war der Schock natürlich groß. Zudem stand eine geistige Behinderung im Raum und eine genetische Ursache für die Einschränkungen war ebenfalls nicht ausgeschlossen. Trotz dieser sehr düsten Prognose haben mich meine Eltern nicht aufgegeben und mir alle Perspektiven und Unterstützungsmöglichkeiten für die Zukunft eröffnet, sodass ich heute in der Lage bin, ein eigenständiges Leben zu führen.
Dank Ihrer Hartnäckigkeit war es mir möglich, in einen normalen Kindergarten zu gehen, wie jedes Kind eine normale Grundschule zu besuchen und schließlich im Alter von elf Jahren in die weiterführende Schule zu wechseln. Mit dem neuen Schuljahr kam also auch ich auf eine neue Schule. Die Wahl meiner Eltern und mir fiel damals auf eine der ersten Integrierten Gesamtschulen (IGS) in Reinlandpfalz, die damals (2010) eröffnet wurde. Zum Zeitpunkt der Eröffnung war die Schule, entgegen einem vorherigen Versprechen des Regierungspräsidiums, nicht barrierefrei. Demensprechend hatte ich von Beginn an mit einer Vielzahl an Barrieren (fehlender Aufzug, viele Treppen, Türen nur schwer zu öffnen, usw.) zu kämpfen. Zusätzlich war ich in der gesamten Schule die damals erste und einzige Schülerin mit einer körperlichen Beeinträchtigung und hatte dadurch ein Alleinstellungsmerkmal, unter welchem ich zeitweise sehr gelitten habe. Glücklicherweise hatte ich neben hilfsbereiten und offenen Mitschülern und einer Integrationshelferin überwiegend verständnisvolle und engagierte Lehrer, die mich von Anfang bis Ende tatkräftig unterstützt haben. Im Jahr 2016 konnte ich dann die 10. Klasse mit einem Durchschnitt von 1,9 erfolgreich abschließen.
Dank der Unterstützung meiner damaligen Klassenlehrerin, die mir schon damals das Abitur zugetraut hatte, bewarb ich mich schließlich am Sozialwissenschaftlichen Gymnasium der Stephen-Hawking-Schule in Neckargemünd Heidelberg. Mit der Zusage und bestandener Eignungstestung stand dann im Sommer der Umzug in das Internat besagter Schule unter der Trägerschaft der SRH an. Dort lebte ich auf einer an die Schule angegliederten Wohngruppe mit insgesamt 14 Schülern, alle mit einer körperlichen Beeinträchtigung.
Insgesamt blicke ich auf meine Anfangszeit in Internat und Gymnasium mit gemischten Gefühlen zurück. Die Tatsache, dass ich mit damals 16 Jahren aus meinem Elternhaus ausgezogen bin und damit auch räumlich sehr weit von meiner Familie entfernt war, hat mich sehr belastet. Auf der anderen Seite hatte ich so zum ersten Mal in meinem Leben die Möglichkeit mich
„kennenzulernen“, meine Stärken und Schwächen zu erproben und einfach ich selbst zu sein ohne dafür verurteilt oder schief angeschaut zu werden. Der Kontakt zu Gleichaltrigen hat zusätzlich dafür gesorgt, dass ich mich weniger einsam gefühlt und mehr an mich Selbst und meine Fähigkeiten geglaubt habe. Endlich war ich mein Alleinstellungsmerkmal losgeworden und konnte mich in Ruhe und in meinem Tempo weiterentwickeln.
Die stetige Unterstützung der dortigen Erzieher, Lehrer, Physiotherapeuten usw. bei der Bewältigung von Schule und Alltag (putzen, kochen, Freizeit etc.) hat schließlich dazu geführt, dass ich über die Jahre immer selbstbewusster und eigenständiger wurde. Den Höhepunkt meiner Selbständigkeit erreichte ich im Jahr 2019, als ich mich während des Abiturs dazu entschloss, nach meinem Schulabschluss einen einjährigen Bundesfreiwilligendienst im westafrikanischen Ghana zu absolvieren. Dadurch erhoffte ich mir einen weiteren Schritt in Richtung Selbstständigkeit und Akzeptanz meiner Behinderung. Zusätzlich hatte ich so die Chance eine völlig andere Kultur kennenzulernen.
Der Wunsch ins Ausland zu gehen, bestand schon lange. Als ich dann von der Möglichkeit erfuhr, mit Rollstuhl ins Ausland zu gehen, habe ich nicht lange gezögert. Schon meine Schwester hatte ein Auslandsjahr im Ausland, genauer gesagt in Amerika, absolviert, weshalb ich es ihr gleichtun wollte. Allerdings wollte ich in kein 0815-Land, in das jeder junge Erwachsene nach der Schule geht. Die Tatsache, dass ich viele Freunde aus dem afrikanischen Raum hatte und diese mir immer sehr spanende Dinge erzählt haben, hat mich letztendlich nur noch mehr darin bestärkt diesen Schritt zu gehen.
Im August 2019 habe ich schließlich meine Koffer gepackt und bin nach Ghana gereist. Dort habe ich als Assistenz an einer Inklusiven Schule für Menschen mit und ohne, aber vor allem mit körperlicher und geistiger Behinderung, gearbeitet. Während dieser Zeit habe ich bereits erste praktische Erfahrungen im sozialen Bereich sammeln können. Die Arbeit mit den Menschen dort hat mir sehr viel Freude bereitet. Diese bereits gesammelten Erfahrungen haben mich darin bestärkt, Soziale Arbeit studieren zu wollen. Dieser Wunsch hat mich auch nach Beendigung meines Freiwilligendienstes im Jahr 2020 nicht mehr losgelassen, weshalb im Oktober desselben Jahres ein Studium der Sozialen Arbeit an der SRH Hochschule Heidelberg begonnen habe.
Die SRH geht mit ihrem Gesamtkonzept bestehend aus überwiegend barrierefrei zugänglichen Unterrichtsräumen, Nachteilsausgleich in Form von Zeitverlängerung bei Hausarbeiten und Klausuren, sowie Physiotherapie auf dem Campus bestmöglich auf meine Bedürfnisse ein. Dadurch habe ich die Möglichkeit, mein Studium in meinem Tempo selbstbestimmt zu absolvieren. Die Zeit an der SRH ist eine gute Vorbereitung auf ein langfristig erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben. Durch meine überwiegende barrierefrei gestaltete Wohnung und ihrer Lage auf dem Campus ist es mir möglich, die Wege in meinem Alltag (von meiner Wohnung zur Hochschule und zurück) eigenständig zu bewältigen. Die Möglichkeit zur Abspeicherung der Materialien auf dem Hochschulserver durch die Dozenten erleichtert mir die Bewältigung des Unterrichtstoffes enorm. Die Durchführung der einzelnen Module in kleinen Kursen ist Fokus auf Gruppenarbeit.
Durch nette, zuvorkommende und hilfsbereite Studierende, sowohl in der Hochschule und in meinem Wohnheim, bin ich außerdem auch sozial gut eingebunden. Nach Abschluss meines Bachelorstudiums möchte ich den Master mit Schwerpunkt Psychosoziale Beratung und Gesundheitsförderung (ebenfalls an der SRH) beginnen.